Ausdauersport bringt einem ziemlich gut bei, sich seine Kräfte gut einzuteilen. Dass dies wichtig ist, kannst du bei jedem Stadtlauf beobachten: viele Läufer sprinten beim Startschuss los, als wäre der leibhaftige Teufel hinter ihnen her und legen hinter der nächsten Kurve röchelnd und keuchend eine Gehpause ein.
In diese Falle kann man als Läufer wieder und wieder fallen, weil es sich im ersten Moment einfach richtig anfühlt. Du stehst geraume Zeit mitten im Pulk, die Anspannung steigt, das Adrenalinlevel auch, du hast viel für diesen Tag trainiert, du bist heißt, du willst los, dann kommt der Knall und du lässt dich von der Masse mitziehen, du kannst diese Geschwindigkeit auch laufen, es geht doch, warum jetzt bremsen, im Wettkampf ist man immer schneller als im Training, die Kraft steckt in den Beinen, du spürst die Stärke und die Spritzigkeit, was kann es schon schaden… und dann ist der Tank leer.

Von jetzt auf gleich reicht der Sauerststoff nicht, die Lunge brennt, das Herz überschlägt sich, die Muskeln verweigern den Dienst und im selben Moment verfluchst du dich, weil du es besser wusstest, weil du vor genau diesem Fehler gewarnt wurdest und weil dir klar ist, dass es nicht rückgängig zu machen ist.
Wenn dein Feuer über längere Zeit brennen soll, schmeißt du nicht dein ganzes Holz auf einmal in die Flamme. Das kann man trainieren – man muss es aber auch.

Ich war jetzt dreimal laufen an drei aufeinander folgenden Tagen: 12 km langsam, 10 km locker, 10 km langsam. Mit ausgeruhten Gräten bei allerbestem Laufwetter deutlich langsamer zu laufen als ich könnte, fällt mir schwer, deshalb war ich am ersten Tag die meiste Zeit zu schnell unterwegs. Das ist gar kein Problem, denn ich kann ja auch schneller. Ich könnte sogar viel schneller! Wenn sich etwas so gut anfühlt, muss es einfach auch gut sein.

Die Quittung habe ich am zweiten Tag bekommen. “Locker” kommt der Wohlfühlpace sehr nahe: es ist langsam genug, dass es nicht so anstrengend ist, aber schnell genug, dass man sich nicht bremsen muss. Obwohl ich die durch den Plan vorgegebene Pace sonst tatsächlich locker laufen kann, musste ich an diesem Tag davor kapitulieren, eine Gehpause einlegen, mit reduzierter Geschwindigkeit weiterlaufen und am Ende trotzdem abgekämpft, schlapp und niedergeschlagen ein paar hundert Meter abkürzen. Auch Tag drei war um ein vielfaches anstrengender als üblich, denn die Beine waren müde und schwer.

Diese Erfahrung kann ich eins zu eins auf den Umgang mit der Depression übertragen. Auch wenn ich mich an einem Tag ausgeruht und fit fühle, sollte ich die Belastungen vorsichtig dosieren. Es wäre ein Fehler, jetzt loszujagen, nur weil es sich gerade danach anfühlt, wenn ich dafür kurze Zeit später röchelnd und keuchend am Straßenrand stehe. Es wäre ein Fehler, heute mehr oder schneller zu machen, nur weil es gerade geht, wenn ich dafür morgen ganz sicher deutlich weniger schaffe als erhofft und dann enttäuscht bin. Natürlich ist es eine Gratwanderung zwischen “zu viel” und “zu wenig”, und die goldene Mitte – “genau richtig” – wird man selten genau treffen. Hier und da nehme ich eine Überlastung vielleicht sogar gerne in Kauf, weil der Anlass es mir wert ist. Ich will auch nicht ständig alles überanalysieren. Es ist aber gut, den Mechanismus zu kennen und von Zeit zu Zeit duch den Sport so deutlich wie jetzt vor Augen geführt zu bekommen, wie sich Anstrengung einerseits anfühlt, wenn man sie regeneriert erlebt und wie sie sich andererseits anfühlt mit Vorermüdung in den Knochen.